Zu den größten Errungenschaften der frühen Neuzeit zählt neben dem Wahrnehmungskonzept der Zentralperspektive fraglos die Wiederentdeckung des Menschen in der Kunst als selbstbestimmtes Wesen aus Fleisch und Blut. Sie war kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess beständiger und intensiver Beobachtung und Analyse. Die Sicht auf den Menschen als kreatürliches Phänomen und soziales Wesen, als Person und Charakter vollzog sich seit der Renaissance besonders vielfältig gerade auch in der italienischen Zeichenkunst. Sie ist dem Experiment offener zugewandt als Werke der Repräsentationskunst wie Skulptur und Malerei und bot der neuen anthropozentrischen Standortbestimmung auch insofern einzigartige Voraussetzungen, als es gerade in Italien antike Vorbilder gab, die den Menschen den neuen Bestrebungen gemäß bereits künstlerisch umgesetzt zeigten. Auf dieser Basis erschloss sich die italienische Zeichnung in vielfältigsten Abschattierungen von der Renaissance bis zum Spätbarock das neue Menschenbild.
Die Aufgabe, den Menschen zeichnerisch zu ergründen, seiner Natürlichkeit und seinem Empfinden nachzuspüren, ihn in seinem Verhalten und Bewusstsein zu beleuchten, wird von der Auffindung bislang ungenutzter, für die neuen Zwecke aber idealen Zeichenmitteln und -techniken begleitet. Das Vermögen, mit der schwarzen Kreide und mit Rötel, Pastellstiften und dem Lavierpinsel ihn neu zu sehen und zu zeigen, wurde in höchst verschiedenen graphischen Herangehensweisen ausgelotet. In einer exemplarischen Werkauswahl rückt die Ausstellung „Den Menschen vor Augen“ Abbildstrategien dieser Art in den Blick. Sie unterwirft sie jedoch keiner strengen Systematisierung, in der das einzelne Blatt als Beleg einer vorgefassten These dient, vielmehr sind die Besucher eingeladen, die Werke aufmerksam zu betrachten, ihnen näherzukommen und sie zu genießen, sich von ihnen anregen zu lassen und nach den künstlerischen Strategien zu fragen, die in ihnen zur Wirkung kommen.
Die Ausstellung umfasst selten gezeigte Glanzstücke der
Staatlichen Graphischen Sammlung München, wie die früheste sienesische
Bildnisstudie von Domenico di Bartolo (um 1400–1447) oder das Blatt mit
einem männlichen Torso, in dem Michelangelo Buonarroti (1475–1564) eine
neuartige von ihm entwickelte Strichtechnik von besonders vitaler
Wirkung anwendet. Neben einer Reihe herausragender Zeichnungen Fra
Bartolommeos (1472–1517) ist auch Jacopo da Pontormos (1494–1557)
fulminantes Rötelblatt „Zwei stehende Frauen" zu bewundern, das fraglos
unter die schönsten und rätselhaftesten Arbeiten von der Hand dieses
Hauptvertreters des Florentiner Manierismus zu rechnen ist. Darüber
hinaus sind Blätter zu sehen, die bislang nur der Fachwelt bekannt waren
wie Odoardo Fialettis (1573–1638) „Brustbild eines bekränzten Fauns“
oder das Selbstporträt Jacopo Amigonis (1682–1752), des im frühen 18.
Jahrhundert im süddeutschen Raum so einflussreichen Vertreters
venezianischer Kunst.
"Den Menschen vor Augen" gliedert sich in vier Abschnitte. Im ersten „unbefangen und verwundbar“, erforschen frühe Blätter den Körperbau, oft mit Bezug auf antike Skulpturen, während spätere Studien sich vermehrt am lebenden Modell orientieren. Der Abschnitt „gewandet und kostümiert“, zeigt Menschen in Hüllen, die ihre Träger in die Welt- und Gesellschaftsordnung einreihen. Gruppen und Menschen in Aktion präsentiert der Abschnitt „neben-, mit- und gegeneinander.“ Er rückt das Verhältnis des Einzelnen zu anderen in den Fokus – oft in subtil beobachteten – nur in der Zeichnung möglichen – künstlerischen Ausdeutungen. Auf besonders bewegende Weise bildet sich das Verständnis und Bewusstsein des Menschen von sich selbst in teils skizzenhaften, teils sorgfältig ausgeführten Zeichnungen von Gesichtern und Köpfen ab. Sie setzen im vierten und letzten Abschnitt „privat und offiziell, ideal und grotesk“, den Schlusspunkt der Ausstellung.
Zur Ausstellung erscheint das Katalogbuch „Den Menschen vor Augen. – Künstlerische Strategien seiner Darstellung in italienischen Zeichnungen 1450–1750, von Kurt Zeitler.
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Staatliche Graphische Sammlung München, Kunstareal München, Katharina-von-Bora-Strasse 10, 80333 München, info@sgsm.eu
Zu den größten Errungenschaften der frühen Neuzeit zählt neben dem Wahrnehmungskonzept der Zentralperspektive fraglos die Wiederentdeckung des Menschen in der Kunst als selbstbestimmtes Wesen aus Fleisch und Blut. Sie war kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess beständiger und intensiver Beobachtung und Analyse. Die Sicht auf den Menschen als kreatürliches Phänomen und soziales Wesen, als Person und Charakter vollzog sich seit der Renaissance besonders vielfältig gerade auch in der italienischen Zeichenkunst. Sie ist dem Experiment offener zugewandt als Werke der Repräsentationskunst wie Skulptur und Malerei und bot der neuen anthropozentrischen Standortbestimmung auch insofern einzigartige Voraussetzungen, als es gerade in Italien antike Vorbilder gab, die den Menschen den neuen Bestrebungen gemäß bereits künstlerisch umgesetzt zeigten. Auf dieser Basis erschloss sich die italienische Zeichnung in vielfältigsten Abschattierungen von der Renaissance bis zum Spätbarock das neue Menschenbild.
Die Aufgabe, den Menschen zeichnerisch zu ergründen, seiner Natürlichkeit und seinem Empfinden nachzuspüren, ihn in seinem Verhalten und Bewusstsein zu beleuchten, wird von der Auffindung bislang ungenutzter, für die neuen Zwecke aber idealen Zeichenmitteln und -techniken begleitet. Das Vermögen, mit der schwarzen Kreide und mit Rötel, Pastellstiften und dem Lavierpinsel ihn neu zu sehen und zu zeigen, wurde in höchst verschiedenen graphischen Herangehensweisen ausgelotet. In einer exemplarischen Werkauswahl rückt die Ausstellung „Den Menschen vor Augen“ Abbildstrategien dieser Art in den Blick. Sie unterwirft sie jedoch keiner strengen Systematisierung, in der das einzelne Blatt als Beleg einer vorgefassten These dient, vielmehr sind die Besucher eingeladen, die Werke aufmerksam zu betrachten, ihnen näherzukommen und sie zu genießen, sich von ihnen anregen zu lassen und nach den künstlerischen Strategien zu fragen, die in ihnen zur Wirkung kommen.
Die Ausstellung umfasst selten gezeigte Glanzstücke der
Staatlichen Graphischen Sammlung München, wie die früheste sienesische
Bildnisstudie von Domenico di Bartolo (um 1400–1447) oder das Blatt mit
einem männlichen Torso, in dem Michelangelo Buonarroti (1475–1564) eine
neuartige von ihm entwickelte Strichtechnik von besonders vitaler
Wirkung anwendet. Neben einer Reihe herausragender Zeichnungen Fra
Bartolommeos (1472–1517) ist auch Jacopo da Pontormos (1494–1557)
fulminantes Rötelblatt „Zwei stehende Frauen" zu bewundern, das fraglos
unter die schönsten und rätselhaftesten Arbeiten von der Hand dieses
Hauptvertreters des Florentiner Manierismus zu rechnen ist. Darüber
hinaus sind Blätter zu sehen, die bislang nur der Fachwelt bekannt waren
wie Odoardo Fialettis (1573–1638) „Brustbild eines bekränzten Fauns“
oder das Selbstporträt Jacopo Amigonis (1682–1752), des im frühen 18.
Jahrhundert im süddeutschen Raum so einflussreichen Vertreters
venezianischer Kunst.
"Den Menschen vor Augen" gliedert sich in vier Abschnitte. Im ersten „unbefangen und verwundbar“, erforschen frühe Blätter den Körperbau, oft mit Bezug auf antike Skulpturen, während spätere Studien sich vermehrt am lebenden Modell orientieren. Der Abschnitt „gewandet und kostümiert“, zeigt Menschen in Hüllen, die ihre Träger in die Welt- und Gesellschaftsordnung einreihen. Gruppen und Menschen in Aktion präsentiert der Abschnitt „neben-, mit- und gegeneinander.“ Er rückt das Verhältnis des Einzelnen zu anderen in den Fokus – oft in subtil beobachteten – nur in der Zeichnung möglichen – künstlerischen Ausdeutungen. Auf besonders bewegende Weise bildet sich das Verständnis und Bewusstsein des Menschen von sich selbst in teils skizzenhaften, teils sorgfältig ausgeführten Zeichnungen von Gesichtern und Köpfen ab. Sie setzen im vierten und letzten Abschnitt „privat und offiziell, ideal und grotesk“, den Schlusspunkt der Ausstellung.
Zur Ausstellung erscheint das Katalogbuch „Den Menschen vor Augen. – Künstlerische Strategien seiner Darstellung in italienischen Zeichnungen 1450–1750, von Kurt Zeitler.
Museum: | Pinakothek der Moderne |
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